Bewertung von Personen als Risikopatienten – eminenzbasierte Willkür?

Original article in English/ Original Artikel:

http://bjsm.bmj.com/content/early/2015/10/01/bjsports-2015-095286.full (BJSM open Access, Editorial)

German translation by Isi Schneider @isi69schneider

Original article by Järvinen, Teppo LN

Zuerst online veröffentlicht am 16. November 2015

Wenn ein Arzt nicht in der Lage ist Gutes zu tun, dann muss man ihn davon abhalten Schaden anzurichten.

-Hippokrates.

In der heutigen Zeit kann das „hohe Risiko“ eine Krankheit zu erleiden beinahe schon als eine eigene Krankheit betrachtet werden. Umfassende Bildungsprogramme in allen Bereichen von Gesundheit und Pflege machen aus dem „hohen“ Blutdruck, den erhöhten Blutfettwerten oder der geringen Knochendichte ansonsten gesunder Patienten chronische Zustände mit einem zunehmenden Risiko möglicher schlimmer Ereignisse1. Aber was bedeutet „hohes Risiko“ überhaupt? Diese Frage bildet den Kern der modernen Medizin in Bezug auf die primäre medikamentöse Prävention.

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Befürworter dieser Entwicklung argumentieren schlicht, dass Primärprävention Leben rettet. Allerdings muss die freizügige Definition bestimmter Zustände als Krankheit nicht zwingend harmlos sein. Auf der individuellen Patientenebene bestehen mögliche Nachteile unter anderem darin, dass relativ gesunde Individuen sich selber als „krank“ empfinden. Dabei beinhaltet beinahe jede Behandlungsform gewisse Risiken2. Auf der gesellschaftlichen Ebene können wir uns sicherlich noch alle an die entmutigenden Ergebnisse der neuen europäischen Richtlinien für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erinnern, auf deren Grundlage die meisten Norwegischen Erwachsenen – mit eine der gesündesten Populationen weltweit! – als Hochrisikogruppe für kardiovaskuläre Erkrankungen3 betrachtet werden müssten. Würden diese Richtlinien im norwegischen Gesundheitssystem tatsächlich angewendet, dann würde allein der Fokus auf Bluthochdruck den jährlichen Gesundheitsetat vollständig erschöpfen.

„Hohes Risiko“ – wie tief können wir ansetzen?

Die derzeitige Diskussion über „Risiko als Krankheit“ dreht sich um die angemessene Schwelle, ab der ein Zustand als Krankheit definiert wird. Der kürzlich von Medizinexperten der Nationalen Osteoporosestiftung (NOF, USA) verabschiedete Osteoporoseleitfaden empfiehlt eine medikamentöse Osteoporosebehandlung wenn die Wahrscheinlichkeit eines Patienten, innerhalb von 10 Jahren eine Schenkelhalsfraktur zu erleiden, bei mindestens 3% liegt. Würden diese Ratschläge der NOF in einer breit angelegten prospektiven Studie Anwendung finden, müsste in den USA mindestens 72% weißer Frauen über 65 und sogar 93% der über 75-jährigen eine Medikamententherapie nahegelegt werden4. Parallel dazu steckt die neue Cholesterinrichtlinie praktisch die gesamte ältere Bevölkerung in die Schublade mit dem Etikett „krank“.

Risikoverständnis: leiten hier die Blinden die Blinden?

Aber wer sind dann die richtigen Leute, um die Grenze zum „hohen Risiko“ festzulegen? Fürsprecher der Hegemonie medizinischer Experten argumentieren dass Ärzte – als Sachverständige – Krankheiten als solche definieren sollten5. Aber wenn wir davon ausgehen, dass Mediziner in Sachen Beurteilung der Perspektive von Patienten die ihnen gegenübersitzen wirklich kompetenter sind als die Patienten selber, sollten wir dann nicht in der Lage sein zu belegen, dass ein Arzt diese Aufgabe auch wirklich erfüllen kann? Traurigerweise scheinen Ärzte trotz eines Medizinstudiums und klinischer Erfahrung dafür nicht die erforderlichen Qualitäten aufzuweisen6.

Schlimmer noch, es kann gut sein dass Patienten diese Wahrnehmung nicht vollständig teilen. So liegt beispielsweise die oben erwähnte Schwelle der NOF mehr als 15-mal tiefer als der Wert, den Patienten in Bezug auf das 10-Jahres Risiko einer Schenkelhalsfraktur zur Legitimierung einer knochenspezifischen Pharmakotherapie befürworten würden (50%).7

Damit einhergehend existiert eine fundamentale Lücke zwischen dem, was beide Seiten als „effektive Behandlungsmethode“ betrachten. Allgemein würden Patienten bei einer absoluten Risikoreduktion (für Herzinfarkte) von >20% mittels präventiver Pharmakotherapie eine entsprechende Behandlung befürworten.8 Dagegen haben Ärzte in der ganzen Welt damit begonnen begeistert Rezepte auszustellen, als sich gezeigt hat, dass ein neues Osteoporosemedikament in der Lage ist, die Wahrscheinlichkeit der Vermeidung einer Schenkelhalsfraktur von 97.9% auf 98.9% zu erhöhen. Tatsächlich hat also ein 1%iger absoluter Vorteil die Kollegen überzeugt. Allerdings – und das soll nicht unerwähnt bleiben – nachdem ihnen dies als 50%ige relative Risikoreduktion verkauft wurde.

Verpflichtet uns der Hippokratische Eid zum Eingreifen?

Man mag sich fragen, warum wir überhaupt noch eingreifen, obwohl nicht nur unsere Patienten unsere Ansichten nicht teilen, wenn es um die Frage geht worin ein nachvollziehbares und behandlungsbedürftiges Risiko besteht, bzw. wie sich eine effektive Behandlung überhaupt definiert. Vor allem dann, wenn die eingesetzten präventiven Maßnahmen 10-mal kostspieliger sind als die eigentliche Behandlung des Ereignisses dem dadurch vorgebeugt werden soll? Die meisten Mediziner vertreten die Ansicht, dass wir keine andere Option haben wenn es um Leben und Tod geht. Allerdings tun wir uns in anderen Disziplinen, die ebenfalls Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlergehen der Bevölkerung haben, wesentlich leichter, kostenbasierte Entscheidungen zu treffen. Grundschullehrer sind sich beispielsweise durchaus bewusst dass es in jeder Klasse eine Anzahl von Kindern mit Lernschwierigkeiten gibt, weil sie vielleicht aus Problemfamilien kommen und daher logischerweise einem „hohen Risiko“ ausgesetzt sind, auf einem niedrigen Bildungsniveau zu verharren. Aber veranlasst uns die erhöhte Gefahr der sich daraus ergebenen sozialen Benachteiligung dazu, in großem Umfang spezielle Lernprogramme für alle „Risikokinder“ zu veranlassen und zu finanzieren?

Die Behandlung von „hohem Risiko“ – zum Hohn der Patientenmitbestimmung?

Kehren wir zurück zur entscheidenden Frage: ist die Behandlung von „hohem Risiko“ ein praktikables Konzept? Die Strategie, über eine einfache Einschätzung des Risikos eines Patienten dieses auch effektiv zu minimieren wirkt verführerisch. Allerdings suggerieren Ergebnisse aus der Verhaltensforschung, dass wir uns in der Regel schwertun, Wahrscheinlichkeiten korrekt einzuschätzen.9 Und trotz ehrbarer Bemühungen die Kommunikation und das Verständnis sowohl in Sachen Risikobewertung, als auch bezüglich zu erwartender Behandlungserfolge zu verbessern, sind sowohl Ärzte als auch Patienten von einer exorbitanten Unfähigkeit befallen, Risiken korrekt einzuschätzen (Abb.1)6. Aber ohne ein genaues und übereinstimmendes Begreifen dieser Schlüsselaspekte existiert keinerlei Basis für gemeinsame Lösungsansätze10. Und ohne solch gemeinsame Lösungsansätze wird eine pharmakologische Primärprävention zur Tyrannei der Eminenz.

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Abbildung 1

Der Begriff Risiko bezeichnet die Wahrscheinlichkeit dass etwas Schlechtes oder Unangenehmes passiert. Intuitiv erscheint dies als ein sehr einfaches Konzept. Allerdings gibt es starke Anzeichen dafür, dass das Begreifen des Risikokonzeptes sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten nur schwach ausgeprägt ist.

Danksagung

An Alan Cassels, für seine Hilfe beim Editieren und das Einfügen zusätzlicher Argumente.

Literatur

  1. Moynihan R; Surrogates under scrutiny: fallible correlations, fatal consequences. BMJ 2011;343:d5160.
    doi:10.1136/bmj.d5160
  2. Tikkinen KA, Leinonen JS, Guyatt GH, et al; What is a disease? Perspectives of the public, health professionals and legislators. BMJ Open 2012;2:pii: e001632. doi:10.1136/bmjopen-2012-001632
  3. Getz L, Sigurdsson JA, Hetlevik I, et al; Estimating the high risk group for cardiovascular disease in the Norwegian HUNT 2 population according to the 2003 European guidelines: modelling study. BMJ 2005;331:551. doi:10.1136/bmj.38555.648623.8F
  4. Donaldson MG, Cawthon PM, Lui LY, et al; Estimates of the proportion of older white women who would be recommended for pharmacologic treatment by the new U.S. National Osteoporosis Foundation Guidelines. J Bone Miner Res 2009;24:675–80. doi:10.1359/jbmr.081203
  5. Moynihan R; A new deal on disease definition. BMJ 2011;342:d2548. doi:10.1136/bmj.d2548
  6. Martyn C; Risky business: doctors’ understanding of statistics. BMJ 2014;349:g5619. doi:10.1136/bmj.g5619
  7. Douglas F, Petrie KJ, Cundy T, et al; Differing perceptions of intervention thresholds for fracture risk: a survey of patients and doctors. Osteoporosis Int 2012;23:2135–40. doi:10.1007/s00198-011-1823-7
  8. Trewby PN, Reddy AV, Trewby CS, et al; Are preventive drugs preventive enough? A study of patients’ expectation of benefit from preventive drugs. Clin Med 2002;2:527–33.
    doi:10.7861/clinmedicine.2-6-527
  9. Kahneman D, Tversky A; Prospect theory—analysis of decision under risk. Econometrica 1979;47:263–91.
    doi:10.2307/1914185
  10. Hoffmann TC, Montori VM, Del Mar C; The connection between evidence-based medicine and shared decision making. JAMA 2014;312:1295–6.
    doi:10.1001/jama.2014.10186

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Kontaktdaten:

Professor Teppo LN Järvinen, Klinische Medizin/Abteilung für Orthopädie und Traumatologie, Universität Helsinki, Zentrale Uniklinik Helsinki, Töölö Klinik/Topeliuksenkatu 5, Helsinki 00014, Finnland; teppo.jarvinen@helsinki.fi

Übersetzt von

Isabel Schneider, M.A. Englisch als Fremdsprache, MA Sportwissenschaften, Dozent an der H:G Hochschule für Gesundheit und Sport, Technik und Kunst

Isabel.Schneider@my-campus-berlin.com

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