By Gerhard Ruedl, and Martin Burtscher
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Institut für Sportwissenschaft der Universität Innsbruck, Österreich
Zählen Sie sich auch zu den über 200 Millionen Skifahrern weltweit, die während der Wintermonate diese faszinierende Sportart auf Pisten oder im Tiefschnee ausübt? Ist Ihnen bekannt, dass sich das Verletzungsrisiko beim Skifahren in den vergangenen 20 Jahren halbiert hat?
Durch die Einführung der sogenannten Sicherheitsbindung kam es zu einer deutlichen Reduktion von Brüchen des Schienbeins und des Sprunggelenks. Allerdings konnte das Risiko einer Knieverletzung bis dato auch durch die Sicherheitsbindungen nicht reduziert werden. Rund ein Drittel aller Skiverletzungen betreffen nach wie vor das Kniegelenk; dabei besteht allerdings ein deutlicher geschlechtsspezifischer Unterschied [1,2]. Frauen haben beim Skifahren ein doppelt so hohes Risiko einer Knieverletzung und ein sogar dreifach erhöhtes Risiko einer Vorderen Kreuzband (VKB) Verletzung als Männer. Erwähnenswert ist hier besonders die Tatsache, dass Frauen mit einer VKB-Verletzung im Vergleich zu Männern um 20 Prozentpunkte (ca. 80 vs. 60%) häufiger angeben, dass sich die Bindung im Moment des Sturzes nicht geöffnet hat [1,3].
Entsprechend der ISO 11088 Norm für die Bindungseinstellungswerte [4] muss ein Skifahrer zwischen Geschwindigkeit (langsam bis gemäßigt vs. schnell), Gelände (leicht bis gemäßigt vs. steil) und Stil (vorsichtig bzw. sanft vs. aggressiv) unterscheiden, um dann einem von drei Skifahrtypen zugeordnet zu werden. Dabei werden allerdings keine geschlechtsspezifischen Unterschiede berücksichtigt.[4]
Angenommen ein Mann und eine Frau gleichen Alters, gleicher Größe und gleichen Gewichts sowie mit gleicher Sohlenlänge des Skischuhs, würden sich als Typ 3 Skifahrer (schnelle Geschwindigkeit, steiles Gelände und aggressiver Stil) einschätzen. Für beide würde dieselbe Bindungseinstellung, ohne Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede, vorgenommen werden. Allerdings gibt es zumindest zwei potenzielle Fehlerquellen, welche die deutlich höhere Zahl an Nichtauslösungen der Skibindungen bei weiblichen Skifahrern erklären könnten:
Zwei potenzielle Fehlerquellen,
Erstens, in einer Studie von Brunner et al. [5] wurde gezeigt, dass männliche, geübtere sowie risikofreudige Skifahrer bei vergleichbarer Geschwindigkeitseinschätzung (schnell, mittel oder langsam), tatsächlich um bis zu 10 km/h schneller Ski fahren als weibliche, weniger geübte sowie vorsichtige Skifahrer. Daher kann angenommen werden, dass im Vergleich zu einem „langsam bis gemäßigt“ oder „schnell“ fahrenden männlichen Skifahrer die Bindungseinstellung für einen „langsam bis gemäßigt“ oder „schnell“ fahrenden weiblichen Skifahrer zu hoch ist. Dies wäre ein Erklärungsansatz für die erhöhte Anzahl an Nichtauslösungen der Skibindungen bei Frauen, da es weder geschlechtsspezifische Unterschiede im Zeitpunkt der letzten professionellen Bindungseinstellung [6], noch im Ausmaß an korrekt eingestellten Bindungen [7], noch beim selbstberichteten Sturzmechanismus bei einer VKB-Verletzung [1,6] zu geben scheint.
Zweitens, eine Studie von Werner und Willis [8] konnte zeigen, dass die Muskelkraft der Beine in hohem Maße mit der Fähigkeit, die Skibindung beim sogenannten Selbstauslösetest zu lösen, korreliert. Mit Hinblick auf das vorher erwähnte Beispiel der Bindungseinstellung eines Mannes und einer Frau mit demselben Körpergewicht sollte daher berücksichtigt werden, dass das Verhältnis von Körpergewicht zur Kraft durch den prozentual höheren Fettanteil der Frau negativ beeinflusst wird.[9] Die dadurch bedingte geringere weibliche Kraftfähigkeit könnte ebenfalls die beobachteten Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von Nichtauslösungen der Skibindungen miterklären.
Obwohl die ISO 11088 Norm [4] bis dato keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den Bindungseinstellungswerten berücksichtigt, können gemäß Punkt B. 4 der ISO 11088 Norm die Bindungseinstellungswerte auf Verlangen des Skifahrers um 15% reduziert werden. Die Kenntnis dieser Möglichkeit ist vor allem für weibliche Skifahrer wichtig. In folgenden Fällen darf die Standardeinstellung nach Berücksichtigung des Typs und des Alters des Skifahrers reduziert (Einstellung 15% unter der Herstellerempfehlung oder in Tabelle B. 1 eine Zeile nach oben) werden [4]:
- a) Skifahrer, die bezüglich der Empfehlung des Herstellers zufriedenstellende Erfahrungen mit niedrigen Einstellungen gemacht haben;
- b) Skifahrer, die Skifahrerfahrung ohne Frühauslösungen besitzen;
- c) Skifahrer, die bestimmte Eigenschaften aufweisen, wie z.B. neutrale Skilauftechnik, defensives Verhalten, hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein u. dgl..
Betrachtet man die in Punkt B. 4 c) angeführten Begriffe „neutrale Skilauftechnik“ und „defensives Verhalten“, so scheinen diese sehr subjektiv zu sein und variieren möglichwese stark zwischen den Geschlechtern. Werden die Begriffe „neutrale Skilauftechnik“ und „defensives Verhalten“ annähernd synonym mit einem vorsichtigen Skilaufstil bzw. vorsichtigen Verhalten auf der Skipiste (im Gegensatz zu einem aggressiven Skilaufstil bzw. risikofreudigen Verhalten) verwendet, so erscheint unser Ergebnis einer früheren Studie [10] an Bedeutung zu gewinnen, dass nämlich ein selbst eingeschätztes risikofreudiges Verhalten auf der Skipiste unabhängig mit dem männlichen Geschlecht (OR: 1,9) sowie einer höheren Durchschnittsgeschwindigkeit (53 vs. 45 km/h) assoziiert ist. Anders ausgedrückt, ein vorsichtiges Verhalten auf der Skipiste ist mit dem weiblichen Geschlecht und einer geringeren Durchschnittsgeschwindigkeit verbunden.
In einer weiteren Studie [11] konnten wir anhand von Geschwindigkeitsmessungen (mit einer Radarpistole) von über 2100 Skifahrer und Snowboarder zeigen, dass Frauen durchschnittlich mit einer signifikant geringeren Geschwindigkeit auf der Skipiste unterwegs waren als Männer (40 vs. 47 km/h). Eine Subgruppe von rund 550 Skifahrern und Snowboardern wurde zudem befragt und in eine schnellere (59 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit) und eine langsamere (36 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit) Gruppe unterteilt.[11] Es zeigte sich, dass die langsamere Gruppe unabhängig assoziiert war mit weiblichem Geschlecht, einem höherem Alter, einem geringeren Können, Snowboarden (vs. Skifahren) sowie einem selbsteingeschätzten vorsichtigen Verhalten auf der Skipiste.[11] In einer dritten Studie untersuchten wir, ob ein selbsteingeschätztes risikofreudiges Verhalten auf der Skipiste mit dem Persönlichkeitsmerkmal „Sensation Seeking“ zusammenhängt [12]. Wiederum zeigte sich, dass das selbsteingeschätzte vorsichtige Verhalten auf der Skipiste unabhängig mit dem weiblichen Geschlecht, mit einem höheren Alter, mit einem geringeren Können sowie mit einem durchschnittlich niedrigeren Sensation Seeking Score verbunden war. [12]
Zusammenfassend weisen unsere Ergebnisse auf einen starken Zusammenhang zwischen dem weiblichen Geschlecht und einem eher vorsichtigen Verhalten sowie einer im Durchschnitt geringeren Geschwindigkeit auf der Skipiste hin. Wir schließen daher, dass die Begriffe „neutrale Skilauftechnik“ und „defensives Verhalten“ im Besonderen das weibliche Geschlecht betreffen. Mit Bezug auf den deutlich höheren Prozentsatz an Nichtauslösungen der Skibindung bei Frauen mit einer Knieverletzung wäre unserer Meinung nach eine um 15% reduzierte Bindungseinstellung für einen Großteil der weiblichen Skifahrer geeignet.
Literatur
- Ruedl G, Helle K, Tecklenburg K, et al. Factors associated with self-reported failure of binding release among ACL injured male and female recreational skiers: A catalyst to change ISO binding standards? Br J Sports Medicine 2016; 50: 37-40
- Burtscher M, Ruedl G. Favourable Changes of the Risk-Benefit Ratio in Alpine Skiing. Int. J. Environ. Res. Public Health 2015; 12 (86): 6092-6097. doi: 10.3390/ijerph12060000x
- Greenwald RM, Toelcke T. Gender differences in alpine skiing injuries: a profile of the knee-injured skier. In: Johnson RJ, Mote CD, Ekeland E, eds. Skiing Trauma and Safety, 11th J. ASTM Intl. 1997, Balitmore:111-21.
- International Organization for Standardization. Assembly, adjustment and inspection of an alpine ski/binding/boot (S-B-B) system ISO 11088, Geneva, Switzerland, 2013
- Brunner F, Ruedl G, Kopp M, et al. Factors associated with the perception of speeds among recreational skiers. PloS One. 2015 Jun 29; 10(6):e0132002. doi: 10.1371/journal.pone.0132002. eCollection 2015.
- Ruedl G, Webhofer M, Linortner I, et al. ACL injury mechanisms and related factors in male and female carving skiers: a retrospective study. Int J Sports Med. 2011;32: 801-6.
- Ruedl G, Pocecco E, Sommersacher R, et al. Differences between actual and recommended binding z-values. In: Müller E, Lindinger S, Stöggl T, Pfusterschmied S, eds. 5th ICSS-Congress, 14.-19. Dec. 2010, St. Christoph, Austria. Book of abstracts: 141.
- Werner S, Willis K. Self-release of ski-binding. Int J Sports Med. 2002;23:530-35.
- Sinning WE. Body composition and athletic performance. In: Clarke DH, Eckert HM, eds. Limits of human performance. The academy papers. Champaign, 1985: 45-56.
- Ruedl G, Pocecco E, Sommersacher R, et al. Factors associated with self reported risk taking behaviour on ski slopes. British Journal of Sports Medicine 2010, 44 (3): 204-206. 11. Ruedl G, Sommersacher R, Woldrich T, et al. [Mean speed of winter sport participants depending on various factors]. Sportverletz Sportschaden. 2010;24:150-53.
- Ruedl G, Abart M, Ledochowski L, et al. Self-reported risk taking and risk compensation in skiers and snowboarders are associated with sensation seeking. Accid Anal Prev. 2012;48:292-96.