Das Verhindern von Überdiagnosen und die negativen Folgen von zu viel Sport- und Bewegungsmedizin (Teil 3 von3) 

 

Von Daniel J. Friedman (Twitter @ddfriedman) und Karim M. Khan

Teil 1: https://blogs.bmj.com/bjsm/2019/12/05/das-verhindern-von-uberdiagnosen-und-die-negativen-folgen-von-zu-viel-sport-und-bewegungsmedizin-teil-1-von3/

Teil 2: https://blogs.bmj.com/bjsm/2019/12/11/das-verhindern-von-uberdiagnosen-und-die-negativen-folgen-von-zu-viel-sport-und-bewegungsmedizin-teil-2-von3/

(Teil 3 von3)

  1. Für jedes Leiden eine Pille

Ärzte sind mit einem Rezeptblock bewaffnet, was sie dazu verleitet Medikamente zu verschreiben. Chirurgen sind mit Skalpellen ausgerüstet, also operieren sie. Gebt uns einen Hammer und alles sieht aus wie ein Nagel. Wir alle starten unser Medizinstudium mit dem Ziel, anderen zu helfen. Wenn sich also eine mögliche Gelegeneheit ergibt, benutzen wir diese Werkzeuge um entsprechend einzugreifen. “Ich kann, oder ich musses richten” ist eine  erlernte Antwort, hervorgerufen durch jahrelanges Befassen mit pathologischen Anomalien und medikamentenbasierten Handlungsmechanismen. Die eigentliche Frage ist jedoch: Warum lernen wir nicht, dass Nichts tun bisweilen der beste Ansatz sein kann? Und was ist mit beobachten und abwarten oder konservativem Herangehen passiert?

Die Pharmaindustrie verspricht für jedes Leiden die richtige Pille parat zu haben, während die Hersteller von Medizinprodukten für jedes Verfahren ein Werkzeug zur Verfügung stellen. Wir weisen darauf hin, dass hier die Zulassungsschwelle durch die entsprechenden Behörden (z.B. die Food and Drug Administration) im Vergleich zu Arzneimitteln niedriger ist, da die Regulierung auf einer anderen gesetzlichen Basis erfolgt. Wundermittel und Schnellschüsse lassen sich wesentlich leichter verkaufen als körperliche Aktivität, Ernährungsstrategien, Achtsamkeit und andere wenig reizvolle Eingriffe in den Lebenswandel, die in den letzten 30 Sekunden einer 15 minütigen Konsultation wie ein undifferenziertes Pauschalrezept empfohlen werden, während der Patient bereits auf halbem Weg zur Tür hinaus ist.

Choosing Wisely, in vielen Präsentationen der Konferenzen thematisiert, ist eine Kampagne die darauf zielt Ärzte und Patienten gleichermassen in Entscheidungen mit einzubinden, die potenziell unnötige medizinische Tests, Behandlungen und Verfahren betreffen (Abb. 8). Sie wurde 2012 in den USA ins Leben gerufen und hat sich inzwischen international verbreitet. Die Initiative ermutigt medizinische Fachgesellschaften (u.A. in der Sport- und Bewegungsmedizin) fünf Tests und Verfahren zu bestimmen, auf die potenziell verzichtet werden kann, um mögliche Schäden durch zu viel Medizin zu vermeiden.

Abb. 8 Ist dieses MRT oder der Eingriff am Knie wirklich nötig?

Die orthopädische Chirurgie wurde auf den Konferenzen teilweise harsch kritisiert. Eine Vielzahl von Rednern hat sich dabei nicht gescheut unnötige Verfahren hervorzuheben, die nach wie vor an gutgläubigen Patienten vorgenommen werden. Seit nun über 15 Jahren wissen wir, dass bei Patienten mit Kniegelenksarthrose Gelenkspülung oder Debridement einem Placebo nicht überlegen sind21. Darüber hinaus hat Professor Teppo Järvinen (@shamteppo), der Vorsitzende des diesjährigen Too Much Medicine Symposiums, zusammen mit seinem Forschungsteam etwas später herausgefunden dass auch für allgemeine chirurgische Eingriffe bei degenerativen Meniskusrissen22 und Schulter-Impingement23 der Effektnachweis fehlt. Wie über 600 Konferenzteilnehmer erfahren mussten, ist eine chirurgische Reperatur nicht immer in der Lage das Problem aus der Welt zu schaffen.

Ein mühsamer Kampf

Der amerikanische Psychiater Professor Allen Frances, bekannt als Vorsitzender der Task Force von der die vierte überarbeitete Revision des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV), stammt, bezeichnet diesen mühsamen Kampf gegen zu viel Medizin als “David gegen Goliath Geschichte”. Die Mächte, die davon profitieren an Überdiagnosen festzuhalten und sie sogar noch auszuweiten, besitzen scheinbar endlose Ressourcen dies zu promoten. Dagegen steht den relativ wenigen Unterstützern und Förderern evidenzbasierter Praxis bestenfalls ein Taschengeld zur Verfügung. Und obwohl die Überdiagnose heutzutage wohl das wichtigste Thema im Gesundheitswesen darstellt, ist es dennoch kaum in der Lage, entsprechende Schlagzeilen zu produzieren. Es obliegt uns daher, die wichtigen Erkenntnisse der Konferenzen über die Echokammer akademischer Kreise hinaus zu betonen und zu verbreiten, wobei wir herausfinden müssen wie wir diese Botschaft in die Welt hinaus katapultieren können, denn “Goliath ist ziemlich gross und wir verdammt klein”.

Eine Reihe hochrangiger Fachjournale haben exklusive Sonderausgaben mit Aufsätzen veröffentlicht in denen exklusiv die negativen Folgen von zu viel Medizin diskutiert werden. Dazu gehören unter anderem die Too Much Medicine Kampagne des BMJ und die Less is More Serie von JAMA’s Internal Medicine. Es gibt Bücher, Podcasts und sogar jährliche Konferenzen (Abb. 9). Und dennoch werden diese Bemühungen zum Reduzieren von Überdiagnosen erschwert durch das das fehlende Bewusstsein von Patienten und behandelnden Ärzten.

Abb. 9 Bitte im Kalender anstreichen: Die 7. internationale “Preventing Overdiagnosis” Konferenz #PODC2019findet vom 5.-7. Dezember 2019 in Sydney statt

Wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen, Überdiagnosen zu verhindern. Behandelnde Ärzte können damit beginnen, indem sie

  • eine gesunde Dosis an Skepsis und eine hinterfragende Herangehensweise gegenüber dem Gesundheitswesen mitbringen.
  • sich eine gewissenhaftere Arbeitsweise aneignen und Empfehlungspraktiken die es dem Patienten letztendlich ermöglichen, auf Basis der besten verfügbaren Evidenz an einer gemeinsamen Entscheidungsfindung teilzuhaben
  • sich stark machen für mehr Transparenz im Gesundheitswesen (Förderung, Einfluss und Ergebnisse) und für Modelle die nicht auf einer Einzelleistungsgebühr basieren.

Denn wenn es um Medizin geht, kann weniger auch mehr sein.

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Danksagungen:

Die Autoren bedanken sich bei Dr. Ray Moynihan für seine Kommentare zum Manuskriptentwurf.

Der englischsprachige Originaltext ist zu finden unter

https://bjsm.bmj.com/content/53/20/1314

Übersetzt aus dem Englischen von:

Isabel Schneider
M.A. Englisch als Fremdsprache
MA Sportwissenschaft

Dozent an der DHGS Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport GmbH

Isabel.Schneider@dhgs-hochschule.de

Physio-Motion – Beratung und Dienstleistungen rund um Sport, Bewegung und Gesundheit

www.physio-motion.de

www.facebook.de/physi0motion

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@isi69schneider

Literatur

21 Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ et al. A Controlled Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee. N Engl J Med. 2002;347(2):81-8.

22 Sihvonen R, Paavola M, Malmivaara A et al. Arthroscopic partial meniscectomy versus sham surgery for a degenerative meniscal tear. N Engl J Med. 2013;369(26):2515-24.

23 Paavola M, Malmivaara A, Taimela S et al. Subacromial decompression versus diagnostic arthroscopy for shoulder impingement: randomised, placebo surgery controlled clinical trial. BMJ. 2018;362.

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